4 Irrtümer über die natürliche Schiefe & die Geraderichtung
In meiner täglichen Arbeit begegne ich Pferden und Reitern mit den unterschiedlichsten Herausforderungen und Schwierigkeiten. Die Ursache der Probleme liegt sehr oft in der natürlichen Schiefe des Pferdes begründet. Nur wenn Pferd und Reiter ihre individuelle Balance finden, können sie gemeinsam erfolgreich sein. Mit erfolgreich meine ich nicht unbedingt einen Sieg auf einem Turnier, sondern auch entspannt ausreiten, erfolgreich neue Aufgaben meistern und einfach gemeinsam Spaß zu haben. Zusätzlich spielt das Thema Schiefe auch eine sehr große Rolle in der langfristigen Gesunderhaltung des Pferdes.
In diesem Blog-Artikel möchte ich die vier größten Irrtümer über die natürliche Schiefe und die Geraderichtung des Pferdes aufklären.
Irrtum 1: Die Muskulatur des Pferdes ist einseitig verkürzt, deshalb muss die Muskulatur einseitig gedehnt werden
Die Schiefe resultiert in den allermeisten Fällen daher, dass ein Hinterbein nicht genügend Schub entwickelt und seitlich am Körper vorbei fußt. Aufgrund der anatomischen Lage des Blinddarms ist das meist das rechte Hinterbein. Das rechte Hinterbein kann nicht so gut unter den Schwerpunkt fußen, da das Pferd hierfür den Blinddarm etwas komprimieren müsste, was den meisten Pferden unangenehm ist. Das Pferd nimmt also kompensatorisch das rechte Hinterbein nach außen und in Außenrotation. Dadurch geht der Schub dieses Hinterbeins schief in Richtung linkes Vorderbein über die Diagonale. Das linke Vorderbein bekommt hierdurch mehr Druck auf der Innenseite, vor allem die Gelenke und der Huf. Zur Kompensation nimmt das Pferd dann den unteren Teil seiner Halswirbelsäule nach rechts. Das Genick ist dabei oftmals nach links gestellt.
Wegen der mangelnden Schubkraft des rechten Hinterbeins muss das Pferd vorne links mehr Stemmarbeit leisten. Der breite Rückenmuskel links (Musculus Latissimus Dorsi) entwickelt sich stärker und sein Helfer der tiefe Brustmuskel (Musculus Pectoralis Profundus) wird ebenfalls stärker. Bei Belastung wird durch diese Muskeln das gesamte Vorderbein in Innendrehung gezogen und die gesamte Statik des Beines verändert sich. Durch den stärkeren breiten Rückenmuskel links wird auch das Becken etwas mehr nach vorne gezogen auf der linken Seite. Durch die veränderten Winkel des Beckens, die sich auf die gesamte Hintergliedmaße fortsetzen, trainiert sich das linke Hinterbein sozusagen von selbst immer weiter auf.
Zur Aussage ,,Die Muskulatur des Pferdes ist einseitig verkürzt, deshalb muss die Muskulatur einseitig gedehnt werden‘‘ kann man also sagen: Die Schiefe des Pferdes ist ein komplexes Thema und die verschiedenen Bereiche des Pferdkörpers rotieren und verschieben sich unterschiedlich. Die gern genutzte Bananen-Theorie und auch die Begriffe hohle Seite und Zwangsseite sind also nicht ausreichend, weil sie sich nur auf die Stellung der Halswirbelsäule beziehen. Einseitiges Dehnen korrigiert also nur Teile der Schiefe und das Pferd muss abwechslungsreich trainiert werden, um der Schiefe entgegen zu wirken.
Irrtum 2: Wenn ich mit meinem Pferd nur Bodenarbeit mache muss ich es auch nicht geraderichten
Pferde die nicht trainiert werden und ein ,,wildes Leben‘‘ auf einer Koppel führen müssen nicht zwingend geradegerichtet werden. Aber sobald ein Pferd mit Reitergewicht belastet wird verstärken sich die Auswirkungen der Schiefe und das Pferd entwickelt schädliche Kompensationsmuster. Auch wenn ein Pferd nicht geritten wird und zum Beispiel in der Freiarbeit am Boden trainiert wird sollte man an der Geraderichtung arbeiten, da das Pferd sich hier auf unnatürlich engen Wendungen balancieren muss.
Das Geraderichten, also die Korrektur der Schiefe, ist essenziell wichtig für die Gesundheit des Reitpferdes und auch des Reiters.
Schon in der Ausbildung am Boden, bevor das Pferd vom Sattel aus gearbeitet wird, kann hieran gearbeitet werden. Nur ein geradegerichtetes Pferd kann sein volles Potenzial entfalten und dabei langfristig gesund bleiben. Ein schiefes Pferd, das regelmäßig geritten wird oder auf Kreislinien vom Boden aus trainiert wird verschleißt deutlich schneller, als geradegerichtete Pferde. Folgen der Schiefe sind mangelnde Rittigkeit, Asymmetrien der Hufe, diffuse Lahmheiten, Muskelverspannungen, Rückenprobleme, Blockaden und eine schiefe Belastung der Gelenke.
Meistens ist vor allem das linke Vorderbein betroffen, da dieses Bein durch die Schiefe vermehrt belastet wird. Hier kann es dann auch zu Sehnenschäden und weiteren Überlastungsanzeichen wie zum Beispiel Überbeinen kommen.
Das Geraderichten ist keine Station, die abgearbeitet wird und dann abgeschlossen ist. Die Arbeit an der Geraderichtung muss das gesamte Reitpferdeleben aktuell bleiben und stetig weiter verbessert werden.
Zur Aussage ,,Wenn ich mit meinem Pferd nur Bodenarbeit mache muss ich es auch nicht geraderichten‘‘ kann man also sagen: Ein Pferd muss geradegerichtet werden, sobald es geritten wird und/oder sich auf unnatürlich engen Wendungen bewegen muss (auch in der Boden- und Freiarbeit).
Irrtum 3: Mit der richtigen Fütterung kann ich die Schiefe meines Pferdes korrigieren
Manchmal kann man beobachten, dass die Pferde direkt nach dem Koppelgang schiefer wirken, da der Blinddarm hier mehr arbeiten muss und aufgeblähter ist.
Man sollte also beim Training auch die Tageszeit beachten und das Training möglichst auf die Fütterungszeiten anpassen sowie blähende Fütterung wie Silage oder auch längere Antibiotikagaben möglichst vermeiden. Nach längeren Antibiotikagaben sollte eventuell eine Darmsanierung durchgeführt werden.
Durch angepasste Fütterung lässt sich die Schiefe nicht wegzaubern aber man kann das Pferd auf jeden Fall unterstützen und eine extreme Schiefe durch einen prall gefüllten Blinddarm und damit auch eventuelle Widersetzlichkeit auf den rechten Schenkel vermeiden.
Die richtige Fütterung ist ein sehr komplexes Thema aber sie hat auch weitreichende Folgen auf die gesamte Gesundheit deines Pferdes.
Hier also ein klares Jein zur Aussage ,,Mit der richtigen Fütterung kann ich die Schiefe meines Pferdes korrigieren‘‘. Die Fütterung kann die Schiefe des Pferdes beeinflussen, aber die richtige Fütterung kann die Schiefe nicht wegzaubern.
Irrtum 4: Ich muss im Training mehr auf einer Hand reiten als auf der anderen, um die Schiefe zu korrigieren
Da sich die Schiefe durch den gesamten Pferdekörper zieht und die Muskeln nicht, wie oft angenommen, einseitig verkürzt sind ist es wichtig, das Pferd abwechslungsreich zu trainieren.
Grundsätzlich gilt für die Korrektur der natürlichen Schiefe: Die Halswirbelsäule muss vermehrt nach links gebogen werden, um die rechte Seite des Halses aufzudehnen. Die Lendenwirbelsäule muss mehr nach rechts gebogen werden, sodass das rechte Hinterbein unter den Pferdekörper fußt. Die rechte Bauchmuskulatur muss stark genug sein, um das Bauchpendel nach rechts zu stoppen bzw. einzugrenzen. Außerdem muss das rechte Hinterbein auftrainiert werden…
Hier ein paar Praxis-Beispiele: In der Biegung nach rechts kann ich die Bauchmuskulatur auf der rechten Seite auftrainieren und die Schiefe in der Lendenwirbelsäule korrigieren. In der Biegung nach links kann ich die Seitneigung der Halswirbelsäule korrigieren. Ich brauche also Biegung auf beiden Händen, um mein Pferd geradezurichten.
Im Schulterherein auf der linken Hand kann man die Seitneigung der Halswirbelsäule nach rechts korrigieren.
Im Schulterherein auf der rechten Hand trainiert man die Adduktoren, also die ,,Heranzieher‘‘ des rechten Hinterbeins in der Stützbeinphase. Ich brauche also auch hier die Lektion auf beiden Händen, um geraderichtend zu trainieren.
Zur Aussage ,, Ich muss im Training mehr auf einer Hand reiten als auf der anderen, um die Schiefe zu korrigieren‘‘ würde ich sagen: Das Pferd sollte grundsätzlich ausgewogen und gleichmäßig auf der linken und rechten Hand trainiert werden. Mit gleichmäßig meine ich ,,gleichmäßig gut‘‘. Das bedeutet, wenn ich zum Beispiel Volten mit Biegung trainieren möchte dann reite ich auf beiden Händen gleich viele korrekte und gute Volten. Wenn die Biegung nach links sehr gut funktioniert brauche ich vielleicht auf der linken Hand nur sechs Volten reiten, damit fünf davon gut werden. Wenn die Biegung nach rechts eher schwer geht dann brauche ich auf der rechten Hand vielleicht zehn Volten, um am Ende fünf korrekte Volten zu haben.
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